Kreativität ist im Augenblick das gefühlte »Allheilmittel« für veränderte Arbeitsprozesse. Sie scheint als solches Branchen und Bereichs-unabhängig zu funktionieren. Egal ob Programmierer, Controller oder Ingenieur – alle sollen in Zukunft höchst kreativ ihr Schaffen gestalten! So zumindest der Tonus in vielen Unternehmen. Wenn Kreativität zur wichtigsten Ressource des 21. Jahrhunderts avanciert und gleichzeitig das Existenzrecht des Menschen innerhalb unserer Arbeitswelt in Bezug auf KI gewährleistet, muss ein Bewusstsein entstehen, was Kreativität ist. Wie wir sie freisetzen, anwenden und weiter trainieren.
Kreativität ist ein Talent, das wir entwickeln können
Es gibt keine Innovation, die nicht durch Kreativität geboren wird. Oft wird Kreativität als ein Soft Skill kategorisiert, dabei ist sie einfach Intelligenz. In einem kreativen Prozess erstellen wir Verbindungen zwischen Objekten, die es zu diesem Zeitpunkt noch nicht gibt oder noch nicht formuliert wurden. Wir erschaffen Geschichten und Beziehungen, arrangieren die Dinge neu. Was wir als Kreativität begreifen ist eine offene innere Ausrichtung, in der komplexe Inhalte ganz entspannt jongliert werden. Es ist ein Gleichgewicht zwischen Anstrengung und Nichtstun. Der Begriff Kreativität bezeichnet ein Erleben, in dem ein Impuls und ein natürliches Interesse zusammenkommen um Begriffe, Objekte, Form und Zusammenhänge neu zu konfigurieren. Und genau dafür braucht es ein Fundament sowie geeignete Rahmenbedingungen.
Sehen wir uns das auf drei Ebenen an:
1. Auf der persönlichen Ebene
Allen voran steht die Lösung für ein menschliches Bedürfnis. Beginnen wir also diese Aufgabe mittels unserer Kreativität zu lösen, sind die ersten Schritte in diesem Prozess relativ frei, leicht zu gehen. Erste Bezüge entstehen, die Dinge arrangieren sich gefühlt ohne große Anstrengung. Irgendwann kommt es zu einem Punkt, an dem wir in die Tiefe gehen, ein Abtauchen in die Details. Nun braucht es Kraft. Es wird anstrengend denn wir hinterfragen, prüfen und wägen ab. Meist findet die Kombination aus Kraft und Anstrengung ihren Ausdruck in unangenehmen Emotionen: Uns passt die Umgebung nicht so richtig, der Kaffee ist zu kalt, das Programm zu langsam etc. Dieser Teil ist dennoch unglaublich wichtig. Genau an dieser Stelle entsteht der »Leitgedanke«. Es geht nun um realisierbare Tatsachen, die von differenzierten Standpunkten aus beleuchtet werden. Wir tauchen mit einem konkreten roten Faden wieder auf und dirigieren in eine folgerichtige Lösung. Es gibt verschiedenste Methoden unsere Kreativität zu trainieren.
Folgende haben sich in der Praxis bewährt:
- Der eigene Coach. Wir machen uns bewusst, was wir brauchen um uns zu entspannen. Geistig, körperlich und räumlich. Es ist entscheidend, dass wir wirklich wissen, wer wir sind und was uns guttut. Empathie trägt maßgeblich dazu bei, dass wir uns öffnen. Lernen Anderen zuzuhören, andere Ansichten und Meinungen anzunehmen. Das alles sorgt für entspannte Offenheit.
- Beurteilen sein lassen. Wir erlauben Gedanken, Ideen und auch »Nonsens« aufzutauchen. Wir kategorisieren es nicht, bewerten es nicht in gut oder schlecht. Der innere Richter, Kritiker und Lehrer darf getrost pausieren. Damit erweitern wir den Raum, in dem wir uns bewegen.
- Kreativität bedeutet Diversifikation. Ist entspannter, offener Raum vorhanden sammeln wir die Dinge, mit denen wir arbeiten. Es ist unser wichtigstes Werkzeug. Eine neue Sprache lernen, neue Gerichte probieren, neugierig verschiedenste Themen und Fachbereiche entdecken. Das stellt unsere Gewohnheitsmuster, die sich natürlicherweise immer wieder bilden, ständig infrage. Wir werden bemerken, dass das immer ein klein wenig Anstrengung kostet. Man könnte es auch als leichten Widerstand beschreiben, den wir durchschreiten. Je öfter wir so im Alltag üben, desto freier werden wir im Geist. Das kommt uns in der kreativen Arbeit zugute. Damit ist nicht gemeint jedes liebgewonnene Ritual zu hinterfragen, sondern die Art des Denkens freier werden zu lassen. Diese Qualität hilft in den »schmerzhaften« Tiefen der Detaillierung flexibel zu werden.
- Wir lassen zu Beginn das »Resultat-Denken« sein. Geben uns spielerisch der Aufgabe hin. Ich würde es für mich als eine »Erlaubnis« beschreiben von der Fixierung auf das Ergebnis loszulassen. Ich erlaube mir bewusst zu spielen. Zeitdruck und Ergebnisfixierung sind in »adäquater Dosierung« nötig, sollten aber nicht ständig den Geist gefangen nehmen. Die Kraft, die wir in diesem freien Spiel einsetzen, ist mehr eine freudige Anstrengung als banaler Druck. Letztlich ist es nicht die viel zitierte Muse, die geniale Lösungen schafft, sondern mentale Entspannung in Kombination mit Konzentration. Je größer darüber hinaus unser Fundus an Erfahrungen, Erlebnissen und Eindrücken ist, desto umfassender werden die Ergebnisse.
2. Kreativität in Teams
Die Stadien, die wir im persönlichen kreativen Prozess erleben durchlaufen Teams in ähnlicher Weise. Der Start ist anstrengungslos, früher oder später geht es jedoch in die Tiefen – mit den gleichen Konsequenzen. Die Frage ist an dieser Stelle, wie das Team zum richtigen Zeitpunkt den Weg nach oben findet. Eine gute Führungskraft ist in der Lage ihr Team nicht zu schnell an den Punkt des Abtauchens zu bringen und weiß welche Impulse die Beteiligten aus dieser Phase führen. In diesem Tief können die notwendigen Impulse ein schmaler Grat zwischen Kontrolle und leitender Orientierung sein. Vordergründig ist es aber entscheidend, dass wir Vertrauen schaffen. Es geht um eine mentale Haltung, die wir klar vermitteln: »Wir kommen ganz selbstverständlich wieder nach oben, ohne es in Zweifel zu ziehen«. Die leichten Zweifel entstehen natürlicherweise dadurch, dass wir am Anfang nicht wissen was der Output sein wird, aber darauf vertrauen am Ende eine gute Lösung in den Händen zu haben. Romas Stukenberg, Partner von NAMENAME, beschrieb die Rolle des Team-Lead sehr passend mit den Worten: »Es geht darum, sich innerhalb der Führungsrolle als Dienstleister des Teams zu sehen«. Weitere Parameter, die das kreative Potenzial in Teams erhöhen sind unter anderem:
- Vielfalt unterstützen. Verschiedene Fachbereiche, Professionen, kulturelle Ansichten oder Altersgruppen zusammen bringen. Damit schaffen wir die Basis möglichst viele Standpunkte einzunehmen, die wiederum unterschiedlichste Verbindungen ermöglichen und das »Spielfeld« ausweiten.
- Den Austausch von Wissen aktiv fördern. Daraus entstehende Dynamiken bewusst zulassen, um Raum für Motivation und verschiedene Teilschritte zu schaffen. Nichts bremst einen Prozess so sehr aus, wie Wissen, das krampfhaft festgehalten, nicht weitergegeben wird oder schlicht unzugänglich ist.
- Updates. Die Diversität im Team ist das Fundament den Fluss von verschiedensten Trends, Entwicklungen und Erfahrungen zu gewährleisten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang ein vorhandener zeitlicher Rahmen. Da dies aber ein notwendiger Bestandteil innerhalb eines erfolgreichen Schaffensprozesses ist, ist die Frage nicht, ob die Zeit vorhanden ist, sondern wie wir diese konkret einbinden!
3. Auf Organisations-Ebene
Eine Herausforderung auf dieser Ebene ist, dass die Organisationen definieren was unsere Talente sind. Meist stellen diese Definitionen die Entscheidungsgrundlage dar, wer gefördert wird und mit welchen Maßnahmen. Dabei ist die Definition von Kreativität in diesem Kontext sehr fragwürdig. Es wird versucht sie zu messen, sie als KPI zu definieren und das Ganze in Datensammlungen zu extrahieren. Welcher Nutzen kann aus diesen Daten gezogen werden? Diese Frage ist leicht zu beantworten, wenn wir verstehen, dass Kreativität nichts Begriffliches ist, sondern ein Erleben, indem ein Impuls sowie natürliches Interesse/Konzentration zusammenkommen wie eingangs beschrieben. Es kann keinen Nutzen geben, denn das Erleben selbst ist nicht messbar, sondern nur die konkreten Ergebnisse.
Ausgehend vom kreativen Prozess in den Team-Ebenen können wir Rückschlüsse ziehen, welche Rahmenbedingungen in Organisationen Kreativität fördern:
- Wir sind nicht ständig kreativ. Es braucht die Balance zwischen Anstrengung und Nichtstun. Um diesem Umstand auf Organisationsebene Rechnung zu tragen, könnten die Aufgaben so strukturiert werden, dass wir zwischen »innovating = creative« und »making = technical« wechseln können. Entscheidend ist auch ein generelles Verständnis dafür, dass Nichtstun ein notwendiger Faktor im Kreativprozess ist. Tendenzen, die den Wert eines Mitarbeiters an der quantitativen Anwesenheit oder am Grad seiner »Beschäftigung« messen, sind kontraproduktiv.
- Kreation ist ein dynamischer Prozess. Der Grund, dass sich Prozesse innerhalb von Organisationen ineffizient entwickeln, ist mitunter das Fehlen der Verbindung von Schaffensprozess und Zeit. Meist wird jede Minute strickt geplant, vielleicht gibt es sogar genaue Vorgaben, die in einer Corporate Behavior definiert sind. Es ist ein von Außen aufgesetztes Raster, das der inneren Dynamik – die unserer Arbeit zugrunde liegt – meist keine Rechnung trägt. Entweder brechen diese aufgesetzten Strukturen ständig zusammen oder behindern die Kreation, indem mehr Energie aufgewendet werden muss als nötig.
- Austausch von Information. Dieser Austausch hat eine direkte Auswirkung auf die Dynamik der Zeit und damit unmittelbar auf den kreativen Prozess. Wird Information aufgrund von Widerwillen, Konkurrenz- oder Zeitdruck nicht klar genug organisiert, steht dieses Wissen nicht zur Verfügung. Stellen wir uns dies im Rahmen einer künstlichen Zeitstruktur vor, die ohnehin der inneren Dynamik keine Rechnung trägt, können wir nachvollziehen, dass damit jede Form von Kreativität erschwert ist. Wissen und Zeit sind nicht mehr im Einklang. Wir haben das Gefühl ständig »Brände zu löschen«.
Wenn wir an den aktuellen Organisationsstrukturen nichts verändern werden wir in vielen Bereichen in Konkurrenz zu einer künstlichen Intelligenz arbeiten. In einer Struktur, die unseren humanen Bedürfnissen keine Rechnung trägt und in der wir unser Potenzial gar nicht voll nutzen können. Genau an diesem Punkt, brauchen wir Ansätze, die Vorhandenes hinterfragen.
In einer weiteren Ebene geht es um die Verantwortung innerhalb der Führung, die sich ebenfalls neu definieren muss. Die humanen Qualitäten wie Intuition, Inspiration und allen voran Empathie werden zu Schlüsselqualifikationen, die sich nicht künstlich konstruieren lassen. Sie sind bereits in jedem von uns vorhanden, wir müssen ihnen nur Raum geben. Wir können die Herausforderungen von KI und Digitalisierung in unserer Arbeitswelt mit Kreativität erfolgreich meistern. Darin besteht für uns kein Zweifel. Lasst uns für Networking und Erfahrungstransfer sorgen, indem wir uns selbst zu Plattformen für konstruktiven Austausch entwickeln. Digitalisierung und KI machen es schließlich möglich!
Kristina Kalisch für becomehuman