Am 16.02.2020 ist es so weit, die Euroshop öffnet die Pforten und damit Einblicke in die Trends und Zukunftsvisionen der Handelslandschaft. Elke Moebius, Director Euroshop, sieht das Thema der Digitalisierung im Mittelpunkt des Interesses. In dieser Definition nimmt der Trend vor allem Bezug auf mehr Service und Emotionalisierung am POS und erweitert das Feld der Retail Technologies (Umsetzung von Omnichannel Strategien). Die Themen Energieeffizienz und Handelsgastronomie setzen ergänzende Schwerpunkte. Spannende, neue Perspektiven für den Einzelhandel. Wir möchten im Vorfeld das volle Potenzial dieser Megatrends sowie deren Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen skizzieren. Doug Stephens (Retail Futurist), Anne M. Schüller (Customer Touchpoint Expertin) und viele mehr beleuchten die Trends des kommenden Jahrzehnts. Wir betrachten diese aus dem Geschichtspunkt einer organisatorischen, digitalen Transformation.
Digitalisierung und physischer Raum – tektonische Veränderung von Budgets und Nutzungskonzepten
Neue digitale Medien-Plattformen entwickeln sich zunehmend zu den eigentlichen Geschäften, auf denen die Verkäufe abgewickelt werden. Doug Stephens merkt in einem Interview auf www.retaildive.com an, dass ein amerikanischer Verbraucher in 66 % der Fälle, in denen er ein Produkt benötigt dies online sucht und kauft. Er betritt zu diesem Zweck keinen physischen Store. Der Store spielt für die Kaufentscheidung somit – anders als noch vor ein paar Jahren – eine sekundäre Rolle. Die klassischen Ladengeschäfte werden dennoch nicht verschwinden. Der physische Ort einer Marke bzw. Retailers bleibt, nur seine Funktion definiert sich in diesem Rahmen neu.
Auch budgetär sind Stores aus Sicht der Marke neu zu bewerten: digitale Medien sind nun im Grunde Umsatzkosten und Miete die Kosten für Kundenakquise. Die Kreation dieser Orte setzt damit ein neues Verständnis dieser veränderten Bedürfnisse voraus. Ladengeschäfte werden zum ersten und einzigen auf allen(!) Sinnen erfahrbaren Berührungspunkt zwischen Menschen und Marken. Die Funktion wandelt sich vom „Point of Purchase“ zum „Point of (meaningful) Experiences“. Er ist die wirkungsvollste strategische Plattform, die Beziehung zum Kunden zu festigen und ihn zu einem Teil der Markengeschichte werden zu lassen. Eine solche Beziehung kann über mehrere Einkaufskanäle hinweg bestehen.
Digitalisierung schafft nicht nur neue Strukturen den Verbraucher mit komfortableren Shoppingerlebnissen abzuholen. Durch diese Technologien wird der Store der am besten messbare und am einfachsten zu verwaltende Medienkanal. Der physische Raum wird bleiben, aber wir brauchen ein Bewusstsein dafür diese neuen Funktionen entsprechend zu gestalten und individuell auf das jeweilige Unternehmen zuzuschneiden. Multiple Funktionsanforderungen setzen dabei eine neue, ganzheitliche Herangehensweise voraus, die weit über das traditionelle Verständnis von Agentur-gesteuertem „Store Design“ hinausgeht. Insofern hat sich an dieser Stelle nicht nur die Aufgabenstellung – das Briefing – verändert, sondern gleichermaßen die fachlichen Hintergründe jener, die diese neuen Konzepte entwickeln.
Neue Rahmenbedingungen verändern nicht nur die Funktion von physischen Retail-Flächen, sie setzen parallel ein neues Design von Führung und Prozess voraus
Eines ist unbestritten: gesellschaftlicher Wandel, Globalisierung und Digitalisierung kreieren eine schier unendlich scheinende Zahl neuer Herausforderungen für den Retail Sektor. Jedoch lässt sich eine gemeinsame Essenz erkennen. Die resultierenden Entwicklungen führen dazu, dass Trends und damit auch Kunden immer hybrider werden. Allein durch Design und Technik sind die neuen Aufgaben nicht lösbar. Es gilt den Menschen auf allen Ebenen in den Mittelpunkt zu stellen und einen neuen Führungsstil zu etablieren. Im Grunde ist die Gestaltung des Führungsstils sowie die Prozessgestaltung auf der Fläche nicht mehr vom Design des Raumes zu trennen. Um auf hybride Bedürfnisse der Kunden eingehen zu können braucht es agile Strukturen. Wobei hier darauf hinzuweisen sei, dass Agilität nicht als allgemeingültige Antwort zu verstehen ist. Es geht darum kreative Qualitäten in der Teamarbeit zu trainieren.
Diese Qualitäten schaffen eine Atmosphäre, in der ständiges Experimentieren, Testen und Verändern zur selbstverständlichen Struktur werden. Teams, die in der Lage sind abseits von linearem und konvergentem Denken neue Wege einzuschlagen, werden die Zukunft von Unternehmen sichern. Dazu müssen Führungskräfte gewillt sein, Entscheidungen zu treffen, ohne sich im Vorfeld über unterstützende Datensätze absichern zu können. Diese Entscheidungen erschließen neuen Raum, der Grundlage für Veränderung und Innovation ist. Die Positionierung von Macht, Autonomie und Entscheidungsfindung gehören ebenfalls in die Aufgabenstellung von ganzheitlichem, transformativem Retail Design.
Skalierbarkeit als Antwort auf Wachstumsanforderungen des 20. Jahrhunderts
Bei Gründung der meisten Einzelhandelsunternehmen kannten und interagierten die Entscheidungsträger direkt mit ihren Kunden. Sie verstanden die Bedürfnisse und Vorlieben ihrer Nutzer aus der eigenen Erfahrung heraus. Mit zunehmender Skalierbarkeit von Organisationen verschwindet dieses intuitive Verständnis und die Führung verliert den Kontakt zu den Bedürfnissen ihrer Kunden. Macht und Entscheidungsfindung verlagern sich nun natürlicherweise in die „Mitte“ des Unternehmens. Organisationen versuchen über die Einbindung Dritter dieses Wissen zurückzuholen. Forschungsunternehmen werden mit der Erfassung und Analyse von Daten beauftragt, die in Studien synthetisiert werden. Doch keine davon kann die Intimität ersetzen, die dem Unternehmen mit seiner Kundenbasis verloren ging. Anstatt an der Front anzusetzen beginnt die Strategie bergab zu rollen und das mit einer theoretisch, konstruierten Nutzerrealität. Die entstehende Dissonanz zwischen der Organisation, deren Mitarbeitern und Kunden ist desaströs. Es gilt Autonomie und Entscheidungsfindung an die Front zubringen und parallel die (intuitiven und wertvollen) Informationen von der Front in die umfassenden Marken-Strategien einfließen zu lassen.
Die Beziehung des Designs des physischen Raumes, der Führung sowie der Prozesse lässt sich mit folgender Metapher etwas greifbarer erläutern: Wir gestalten den physischen Raum als Bühne eines Theaterstücks, dass in der Lage ist, sich selbst weiterzuentwickeln. Der Nutzer schreibt die Dramaturgie, während wir die Schauspieler befähigen völlig entspannt und flexibel mit dem Kunden in diesem Stück zu interagieren. Branding ist die Brücke, die das individuelle Erlebnis des Kunden aber auch des Mitarbeiters mit der Marke verbindet.
Integration der Trends des Kulturkapitalismus
Doug Stephens verweist darauf, dass sich die Ausgaben der Konsumenten vom Produkt auf das Erlebnis verlagern. Einer Studie zufolge gaben mehr als 75 % der Millennials an, lieber Geld für Erlebnisse mit Freunden und Familie auszugeben als für Produktkäufe. Der Umsatz aus Unterhaltung, Live-Konzerten, Gastronomie sowie Reisen steigt kontinuierlich. Dieser Trend wird durch soziale Medien weiter angetrieben. (Relevante) Erfahrungen sind zur sozialen Währung einer neuen Generation von Konsumenten geworden. Erlebnisse, nicht Produkte performen am wirkungsvollsten auf dieser sozialen Ebene. Das eigentliche Produkt in diesem Zusammenhang das Souvenir des Erlebnisses. Dieser Erlebnisfaktor wird oftmals durch Konzeption als „Freizeitdestination“ oder „Mixed-use-concept“ integriert. Doch es geht um weit mehr als konstruierte Erlebnisse. Wir brauchen tiefere Werte, die das Erlebnis zu einer relevanten Erfahrung transformieren. Nur relevantes bleibt in Erinnerung und taugt als „soziale Währung“. Es gibt hier keine allgemeingültige Formel, die richtige Antwort liegt immer in der individuellen Struktur bzw. im Markenkern des Unternehmens selbst.
Retail Design basiert normalerweise auf „Personas“ oder Archetypen, in deren „Cluster“ Konsumenten über ihre Bedürfnisse unterteilt werden. Es handelt sich um ein Vorgehen, dass für komplizierte Verbraucherprofile gut geeignet war. Aber das Verhalten heutiger Verbraucher ist hybrid, widersprüchlich und damit komplex. Komplexe Entitäten lassen sich nicht in technische Einzelteile zerlegen. Es existieren zu viele Kausalitäten, die damit außer Acht blieben. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, gilt es das Werteversprechen so zu gestalten, dass es unsere tieferen, universellen menschlichen Bedürfnisse berücksichtigt. Sicherheit, Anerkennung, Zugehörigkeit, Inspiration, Unterhaltung sowie Sinn sind die Dinge, die sich jeder Mensch wünscht. Gerade der Sinn oder „Purposeful Brands“ nehmen eine zentrale Rolle ein. Doch Vorsicht: stellt sich der kommunizierte Purpose als sinnfreie Marketingmethode heraus, geht der Schuss nach hinten los. Es geht um einen wahren Sinn und Zweck, der in der Realität standhält.
Dieser Purpose-Trend beeinflusst parallel die bisherigen Vertriebsmethoden. Hat vor ein paar Jahren der Vertriebsmitarbeiter Einfluss auf die Entscheidungsinitiative genommen, so sind es heute Empfehler und Influencer. In der jüngeren Kunden- und Nutzerschicht wird der „Peer Talk“ zum Kaufberater. Die Erfahrungen von Gleichrangigen auf Blogs, YouTube und Veröffentlichungen auf unzähligen sozialen Plattformen erscheinen wesentlich authentischer und damit glaubwürdiger als Markenversprechen. Gutes zu tun und darüber zusprechen entwickelt sich zu einem neuen Statussymbol. Fassen wir es etwas zusammen: Die Begegnungen von Nutzer, Kunde und Mitarbeiter mit der Marke müssen ein (relevantes) Erlebnis sein. Es geht um einen wirklichen Austausch, um Interaktion. Die Marke steuert den Kunden nicht mehr, Mensch und Unternehmen gehen zukünftig eine lebendige, Sinn-orientierte Beziehung miteinander ein.
Die richtige Balance zwischen Mensch und Maschine
Unzählige Start-ups vermitteln den Eindruck, die besten Technologien und Must-haves auf Lager zu haben, um Digitalisierung und zunehmenden Wettbewerbsdruck erfolgreich zu begegnen. Keine Frage, KI ist die Technologie mit dem disruptivsten Potenzial im Einzelhandel. Auf Unternehmens- und auf Kundenseite wird sie zu einem tief greifenden Wandel führen. Herstellungsprozesse, Logistik, Personalplanung und strategische Weiterentwicklung wird durch KI neu konfiguriert. Nutzer und Mitarbeiter operieren zukünftig mithilfe von KI-fähigen Systemen, Plattformen und Applikationen. KI-Technologien werden zum Navigator durch das Tagesgeschäft und unserem Konsumleben gleichermaßen.
Dennoch gibt es keine Technologie, die wir als allgemein notwendig oder grundlegend Erfolgs-steigernd klassifizieren könnten. Die Wahl der Komponenten ist für jedes Unternehmen individuell zu bewerten. Es hängt von der jeweiligen Marktpositionierung, der Markenessenz und dem Kundenerlebnis ab. Ein guter Ansatz ist in diesem Fall erst das Kundenerlebnis in Bezug auf den Markenkern zu gestalten und anschließend die Auswahl der richtigen Technologie an diesem Ziel auszurichten. Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Es ist im besten Fall die perfekte Infrastruktur für Markenerlebnisse mit Relevanz. In einer globalisierten Wirtschaft gibt es keine einzigartigen Produkte. Der einzigartige Verkaufsprozess wird nun zum entscheidenden Produkt.
Setzen wir den Purpose-Trend, Digitalisierung und human-centered Design in Bezug, so können wir konstatieren, dass es darum geht, das Beste aus der realen und virtuellen Welt miteinander zu kombinieren. Wir brauchen die menschliche Kreativität um zunehmender Komplexität begegnen zu können. Je digitaler die Retail Konzepte angelegt werden, umso wichtiger wird gleichzeitig die menschliche Begegnung. Crossfunktionale Zusammenarbeit zwischen KI und Mensch ist ein wichtiger Baustein in der Entwicklung von Retail Design. Aus diesem Grund brauchen wir nicht nur Daten- und Technologieexperten, sondern auch jene, die die Menschen adäquat für die Erfordernisse dieser Entwicklungen trainieren und unterstützen.
Kristina Kalisch für becomehuman